Tomboy - Ein Film von Céline Sciamma. Ab 14. September auf DVD und Blu-ray - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 06.09.2012


Tomboy - Ein Film von Céline Sciamma. Ab 14. September auf DVD und Blu-ray
Marie Heidingsfelder

Coming of Age als Coming of Gender - In ihrem sensiblen Film erzählt die französische Regisseurin von der 10-Jährigen Laure und ihrer Verwandlung in den Jungen Michael. Ein wunderbar leichter...




... Sommer, in dessen Schatten immer wieder der Ernst im Spiel mit den Identitäten lauert.

Noch einmal ganz neu beginnen

Diese Chance ergreift die 10-Jährige Laure, als sie zu Beginn der Sommerferien mit ihrer Familie in eine neue Stadt zieht und sich ihren neuen FreundInnen aus einem Impuls heraus als "Michael" vorstellt. Im plötzlichen Freiraum vor dem Schulbeginn und den Veränderungen der Pubertät nutzt Laure die Sorglosigkeit der Ferien für ein spannendes Wechselspiel: Zuhause noch immer Tochter und große Schwester, probiert sie im Spiel mit den anderen Kindern ihre Möglichkeiten als Raufbold, Fußballheld und Mädchenschwarm.
Mit erstaunlichem Mut, Kraft und Erfindungsreichtum gelingt es ihr, nur ihre Schwester in das intime Rollenspiel einzuweihen. Doch im Schatten der kürzer werdenden Tage lauern die Namenslisten der Schule und das Ende der körperlichen Kindheit.

Hintergründige Leichtigkeit

Mit großer Sensibilität und Natürlichkeit gelingt es Céline Sciamma, ein noch immer mit Verboten behaftetes Thema zu behandeln: Transgender-Identitäten von Kindern und Jugendlichen. Tatsächlich setzen die Tabus häufig sogar schon früher an, bei der bloßen Anerkennung einer Sexualität von Kindern, denen man zwar von Geburt an rosa oder blau gefärbte Rollenbilder vorgibt, aber weder echte Konflikte noch tatsächliches Begehren zuspricht. Mit dem Titel "Tomboy" greift Céline Sciamma dieses Problem auf und zeigt ein Mädchen, das sich aus einem inneren Impuls heraus wie ein Junge kleidet, fühlt und benimmt - sei es als Phase oder als Anzeichen einer tatsächlichen Heimatlosigkeit im eigenen Körper.
Das über weite Teile glückliche und sorglose Spiel von Laure alias Michael erweist sich somit als Hintergrund für die sehr ernste Frage, wie viel geschlechtliche Autonomie die Gesellschaft Kindern zugesteht und wo die Grenzen zwischen Verkleidungsspiel und radikalen Identitätskonflikt liegen.

Auf Augenhöhe

Die gelungene Ambivalenz zwischen Leichtigkeit und Schwere ist dabei - abgesehen von der herausragenden Leistung von Zoé Hernan - besonders der sensiblen Kameraführung zu verdanken, die sich immer auf Augenhöhe der Kinder bewegt und ihrer Protagonistin viel Zeit und Raum lässt. Fast ohne Musik und mit wenig Dialogen erhalten die ZuschauerInnen einen sehr intimen Blick auf den Alltag von Laure und Michael: Die Momente vor dem Spiegel, die toten Zeiten der Langeweile, den Umgang in der Familie und die Selbst-Inszenierung vor den anderen Kindern.
So sind die ZuschauerInnen aus der Sicherheit der kritischen Beobachtung gerissen und werden zu intimen Verbündeten von Laure - ständig in Angst, mit einem Stück Knete in der Badehose ertappt zu werden.

Aktueller Fall in Berlin: Der Streit um die 11-Jährige Alex

Die gesellschaftliche Relevanz von Céline Sciammas Filmthema wird deutlich, wenn mensch die aktuelle Debatte um die Psychiatrie-Einweisung einer Elfjährigen betrachtet. Mit den biologischen Merkmalen eines Jungen geboren, fühlte Alexander sich von Beginn an als Mädchen. Da die geschiedenen Eltern unterschiedlicher Auffassung über den Umgang mit der Sexualität ihres Kindes waren, übergaben sie die gesundheitliche Fürsorge an das Jugendamt - und das gab der Einschätzung einer Pflegerin Recht, wonach die Mutter die Transsexualität induziert habe. Ohne psychiatrisches Gutachten kann Alex daher in die Charité zwangseingewiesen werden, wo es Chefarzt Klaus Beier darum geht, Alex sein "biologisches" Geschlecht nahe zu bringen und "geschlechtsatypisches Verhalten" zu "unterbinden".

Zur Regisseurin: Céline Sciamma wurde 1980 in Pontoise geboren und ist studierte Drehbuchautorin. Ihr Debüt als Regisseurin gab sie 2007 mit der Verfilmung ihrer Abschlussarbeit, der lesbischen Coming Out Story "Naissance des pieuvres" (Deutsch: "Water Lilies"). Mit "Tomboy" erschien 2011 ihr zweiter Film, wiederum in der Doppelrolle als Autorin und Regisseurin.

AVIVA-Tipp: Weitab vom Genre des Kinderfilms ist Tomboy ein sensibles und ebenso leichtes wie ernstes Coming Of Age Drama mit hoher gesellschaftlicher Relevanz. Cineastisch und inhaltlich überzeugend lief er nicht nur erfolgreich im französischen und italienischen Kino, sondern gewann auch zu Recht den Teddy-Award der Berlinale 2012. Kraftvoll, eindringlich und absolut sehenswert.

Tomboy
Frankreich, 2011
Regie und Drehbuch: Céline Sciamma
Kamera: Crystel Fournier
DarstellerInnen: Zoé Heran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani, Mathieu Demy, Yohan Véro, Noah Véro, Cheyenne Lainé, Ryan Boubekri
Sprachen: Deutsch, Französisch. Untertitel: Deutsch
Verleih: Alamode. Vertrieb: Al!ve
Ab 14. September auf DVD und Blu-ray

EXTRAS: Interview mit Céline Sciamma, Trailer
Filmlänge: 82 Min. / 85 Min.
FSK: 12
Bestell-Nr.: 6413442, 6413443
EAN: 4042564134421, 4042564134438

www.tomboy-film.de

Den Trailer zum Film finden Sie unter: www.youtube.com

Weiterlesen auf AVIVA Berlin:

Interview mit Céline Sciamma

"Water Lilies", Céline Sciammas Debutfilm


Mehr zum Thema:

Eine Unterschriftenkampagne der britischen Transsexuellen-Aktivistin Katrina Swales für Alex´ Selbstbestimmung finden Sie unter:
Stop the institutionalization

Den ausführlichen Artikel "Alex soll in die Psychiatrie" der taz finden Sie unter: www.taz.de



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Beitrag vom 06.09.2012

AVIVA-Redaktion